Einige Gedanken über das neue Buch von Ingmar Brantsch „Ich war kein Dissident“: Autobiographie, Ludwigsburg, POP-Verlag Fragmentarium, 1. Auflage, 2009, 254 S., ISBN 978-3-937139-68-5
Von Agnes Gossen-Gisebrecht
Wer eine lange Reise macht, der hat was zu erzählen, sagt der Volksmund. Die fast 70-jährige Lebensreise des rumäniendeutschen Schriftstellers und Literaturkritikers Ingmar Brantsch, deren Stationen er mit feinem Sinn für Humor und Gerechtigkeit in seinem neuem Buch „Ich war kein Dissident“ schildert, beginnt mit dem schönsten und lyrischsten Teil „Kindheit im Karpatenbogen“. Sie hat er zum Teil in einem typisch siebenbürgisch-sächsischen Pfarrhaus verbracht mit frommen Bewohnern, einer Kirchburg, Dorfkirche mit einer Orgel: Es war, wie er schreibt, „eine kleine, heile Welt voll Wärme und voll Licht. Voll Licht, das auch bunt sein kann, durch Anekdoten, die Butzenscheiben der Erinnerung. Was eine siebenbürgisch-sächsische Dorfgemeinschaft einem auf den Lebensweg mitzugeben vermochte, versteht man erst dann wirklich richtig, wenn man vom Leben gebeutelt ist...“
Ein Jahr vor dem Krieg geboren, wurde er als 3-jähriger Junge mit seiner Schwester von seiner schwangeren Mutter zu seinem Onkel Karl (Karlonkel, Dorfpfarrer) und der Ingetante für eine Weile geschickt. Sein Vater war an der Front, erst mit der deutschen Wehrmacht und später, als Rumänien die Seiten im Krieg wechselte, an der russischen Seite als Hauptmann der Artillerie. Da es nach der Niederlage bei Stalingrad kaum Pferde gab und er kurzerhand Kamele eines Wanderzirkus’ requirierte, um die Lafetten der Geschütze weiter zu ziehen, und auf dem Rückzug vom „bolschewistischen Erzfeind“ gegen den faschistischen Erzfeind kämpfen musste, nennt der Autor ihn augenzwinkernd: „O, mein Papa, der antifaschistische Kameltreiber“.
Erstaunlich, dass er seine Kindheit während des Krieges fast wie ein Idyll empfunden hat („Die Russen tun ja nichts“... sagt er als 5jähriger, als er mit ihnen bis zum Ende des Dorfes mitfährt und das ganze Dorf glaubt, er sei entführt worden. „Und ob sie was machen“, brummt der Onkel. „Revolution haben sie gemacht, Bürgerkrieg haben sie gemacht...“)
Es passierten auch bedrohlichere Sachen, bei denen sein Onkel nur glimpflich davon kam: als jemand ihn verraten hatte und die rumänische Polizei daraufhin bei ihm seine vergrabene Pistole fand. Als nach dem Krieg die rumäniendeutschen Männer zwischen 17 und 45 zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert wurden, rettete den Dorfpfarrer ein befreundeter rumänischer Polizist, der den russischen Offizier begleitete. Er warnte den Onkel auf Rumänisch und riet ihm, sich krank zu stellen und im Bett liegen zu bleiben.
Seine Tante war eine gute Organistin und Pianistin, es gab viele Bücher im Haus. Einige siebenbürgische Autoren gehörten zum Freundeskreis der Familie. Der zukünftige Lyriker Ingmar genoss das Leben in der Natur, umgeben von Musik und Literatur. Als Schulkind verbrachte er alljährlich viele Wochen in den Ferien bei seinem Onkel in Kelling und erlebte dort seinen ersten Erfolg mit einem Zwiebelgedicht in der vollbesetzten Kirche. In der dritten Klasse zeigte er seine ersten Naturgedichte seiner Lehrerin, die er ihr gewidmet hatte, weil er sie sehr mochte…
Seine ehrgeizige Mutter nahm ihn aus der deutschen Schule und schickte ihn aufs rumänische Gymnasium, wo er sich nicht besonders glücklich fühlte, aber so besser die rumänische klassische Literatur kennenlernte und sie später auch neben Germanistik studierte und unterrichtete, obwohl er für sich sehr früh beschlossen hatte, ein deutschsprachiger Dichter zu werden, und bald auch als sehr begabt galt.
Interessant finde ich auch den zweiten Teil des Buches „Meine Universitäten Ost“ (das Zweitstudium im Westen in Köln und Bonn wird wahrscheinlich in der Fortsetzung des Buches erscheinen). Obwohl das von Brantsch beschriebene Studentenleben, die Unterbringung in überfüllten Zimmern in Studentenheimen, die ich in Russland rund 15 Jahre später etwas anders erlebt habe, kam mir sehr bekannt vor aus den Erzählungen meiner älteren russlanddeutschen Schriftstellerkollegen, die auch über die Atmosphäre der Angst und den Denunziationen während ihres Studiums berichteten.
Ingmar Brantsch berichtet über die Verhaftung eines seiner Kommilitonen durch die Securitate (den rumänischen Geheimdienst) im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Jahr 1956. Auch die Gruppensprecherin, die nicht den Mut hatte, über die Festnahme der Dozentin – der Gruppenleiterin – zu berichten, hatte deswegen große Probleme. Der Autor schreibt: „Wie eine existenzialistische Gewitterwolke schwebte im langsam abklingenden Stalinismus eine undefinierbare Angst, eine sorgenvolle Ungewissheit, ob man nicht eine verhängnisvolle Unvorsichtigkeit begangen habe über allen Studierenden, wie zum Beispiel das verbotene Hören der Jazzmusik im Zimmer, das später sehr tragische Folgen hatte“. Das Radio wird vom Autor aus der jetzigen Sicht ironisch als „Instrument zur Verbreitung der rhythmisch tönenden Ideologie des Klassenfeindes“ bezeichnet.
Aber es waren auch Jahre, in denen sein lyrisches Talent aufblühte und er mit ein paar dichtenden Kommilitonen oft über Gedichte diskutierte. So schrieben sie Gedichte, die in der Uni-Wandzeitung veröffentlicht und in Literaturzirkeln der Fakultäten vorgetragen wurden, und fühlten sich als kulturelle Bereicherer der schwierigen Übergangsperiode. „Diese Spannung zwischen hehrsten Menschenidealen der Zukunft und mitunter miesesten Situationseinschränkungen der Gegenwart schuf ein für die Lyrik günstiges Klima“, schreibt er.
Dabei ist der Autor des Buches „Ich war kein Dissident“ schonungslos ehrlich, was eigene Jugendgedichte betrifft: „Die Menschheit und die Natur vereinst du / Fahne der Arbeiterklasse, Fahne der Partei.“ Ist es nicht ein etwas naiver patriotischer Gedanke eines immerhin global philosophisch denkenden jungen Menschen?
Er hatte in Bukarest mit 16 Jahren als jüngster Student die Philologische Fakultät beendet und 5 Jahre später (1967) erschien in Rumänien Brantschs erster Lyrikband („Deutung des Sommers“), der ihn schlagartig bekannt machte. 1968 wurde er zum ersten Mal in Westdeutschland veröffentlicht und mit dem Lyrikpreis der Jungen Akademie Stuttgart und dem Anerkennungsdiplom der Jungen Akademie München ausgezeichnet.
Er und einige gleichgesinnte junge Autoren versuchen, neue Wege zu gehen und beginnen moderne Alltagslyrik zu schreiben, die aber bei den älteren konservativ gesonnenen, ideologisch wachsamen Autoren und nicht besonders gut gebildeten Funktionären schlecht ankamen. Er erntete nach seinem Erfolg im Westen sofort für seine unabhängige Haltung herbe Kritik der Funktionäre in der Heimat. Darüber berichtet er in den Kapiteln „Schiffbruch in Bukarest“ und „Zurück zu den Wurzeln“, in denen er parallel über seine zweijährige Arbeit als Redakteur und Bibliothekar in Bukarest, die sieben Jahre als Gymnasiallehrer in Kronstadt und seine Mitarbeit an verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften schreibt.
Es waren nicht rumänische, sondern eigene rumäniendeutsche Funktionäre, die sein Leben fast unerträglich machten und seine Zukunft als rumäniendeutscher Autor verbauten. Dabei versuchte er nur gegen falsche Behauptungen anzukämpfen, aber es war aussichtslos. Sehr ausführlich berichtet Ingmar Brantsch über die deutsche Presselandschaft, die Literaturszene in Rumänien und die unterschwelligen und offenen Auseinandersetzungen. Manchmal staunt man nur, wie viel Pech jemand haben kann, wenn er nicht so anpassungsfähig ist, wie die später im Westen als Dissidenten gefeierten Autoren der Aktionsgruppe Banat. Ingmar Brantsch schreibt: „Nach der Beendigung ihrer ‚revolutionären’, auf der nationalen Minderheit der Banaterschwaben herumhackenden Kampfzeit der Bewegung kamen die ideologisch ehrlichen marxistischen Aktionsgrüppler in die Jahre, in die Karriere, zu Preisen des Kommunistischen Jugendverbandes für Literatur und sozialistische Ethik (Rolf Bossert, Richard Wagner, Herta Müller u.a.),“ was später im Westen verschwiegen wurde, und sie kamen zu Wohnungen, was auch ein großes Privileg in der damaligen Zeit war.
17 Jahre nach seiner Ausreise wurde Ingmar Brantsch (1987) mit dem Literaturpreis der Stadt Siegburg in NRW (Nordrheinwestfalen) ausgezeichnet. Mittlerweile ist er als Autor von mehr als einem Dutzend Bücher bekannt und bleibt wie in seiner Jugend offen und ehrlich. Er war damals Mitglied des Jugendverbandes und steht im Buch zu seinen Fehlern in der Vergangenheit, versucht aber auch, viele Behauptungen und Verleumdungen dieser Zeit wieder ins richtige Licht zu rücken und gegen die im Westen entstandenen Unwahrheiten in der Gegenwart zu kämpfen. Ingmar Brantsch war Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbandes; er gehört u. a. dem PEN-Zentrum Deutschsprachiger Autoren im Ausland, dem Verband Deutscher Schriftsteller, der Künstlergilde Esslingen, der Regensburger Schriftstellergruppe International und der Literarischen Gesellschaft Köln an und ist Ehrenmitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland für seine jahrelange Unterstützung russlanddeutscher Autoren.
Der Titel seines Buches „Ich war kein Dissident“, der auf jeder zweiten Seite des Buches in der Kopfzeile erscheint, ist für mich wie ein Aufruf einer nach Gerechtigkeit trachtenden oppositionellen Seele, die es nicht annehmen kann, dass die früheren Lieblinge des Ceausescu als Dissidenten im Westen gefeiert werden, obwohl sie „Dichter ihrer eigenen Legenden“ sind, so Brantsch. Da es sich um tatsächlich talentierte Autoren handelt, die ich früher gerne gelesen habe, und ich auch Ingmar Brantsch lange als einen sehr ehrlichen Menschen kenne, der sich immer wieder für die Belange der deutschen Minderheiten in Ungarn und der ehemaligen Sowjetunion einsetzte, ihre Literatur besser als mehrere Russlanddeutsche selbst kennt, hinterlässt dieses Buch bei mir einen etwas bitteren Beigeschmack.
Ist es nicht typisch deutsch, sich selbst ewig zu bekämpfen oder Halbwahrheiten für Wahrheit in letzter Instanz zu halten, ohne sich des eigenen Verstandes zu bedienen und nachzudenken. Als Außenseiter fühlt man sich aber bei dieser Wahrheitssuche etwas verloren, weil die Unmenge von Details, die der Autor dieses Buches schildert, auch manchmal droht, zu einer Lawine zu werden.
Er hat ein phänomenales Gedächtnis, was Literaturgeschichte betrifft, kann sehr viel aus dem Kopf zitieren, kennt Hunderte Schriftsteller und ihre Werke aus der Vergangenheit und Gegenwart, hat sich seit Jahren mit der Literatur nationaler Minderheiten befasst, kennst sich bestens in der rumäniendeutschen und ungarndeutschen Literatur aus, hat ein literaturwissenschaftlich wertvolles Buch über russlanddeutsche Literatur („Das Leben der Russlanddeutschen nach dem zweiten Weltkrieg im Spiegel ihrer Literatur“) geschrieben und sehr viele Neuerscheinungen deutscher Autoren aus Russland besprochen. Er hat auch über 12 Jahre wohlwollend die Entwicklung und die Aktivitäten des Literaturkreises der Deutschen aus Russland beobachtet, regelmäßig darüber berichtet und uns unterstützt. Seine geistige Unabhängigkeit war und bleibt seine wichtigste Eigenschaft. Sie bestimmte seine Entscheidung, auszuwandern. Später in Köln als Student, der noch etwas vom Geist der Studentenbewegung der 68er Jahre mitbekommen hatte und davon auch gewissermaßen geprägt wurde, entschied er sich, freiwillig ersatzweise 8 Tage im Gefängnis abzusitzen statt 80 DM ungerechter Strafe zu bezahlen, um den Leuten, wie er schreibt, „ein Beispiel an Ungebrochenheit und streitbarem Rechtsempfinden zu geben“.
Ingmar Brantschs Stil ist manchmal etwas zu umständlich, aber der ihm so eigene ironische Unterton, seine Gabe, sich auch über sich selbst zu erheben, machen sein neues Buch für mich wieder lesenswert und interessant.
„Mein Schicksal war also für meine zweite Lebenshälfte nicht mehr die alte Heimat Siebenbürgen, Transsilvanien, Rumänien, sondern die neue (dabei uralthistorische) Heimat Deutschland und dort das Rheinland, denn aus der Gegend Rhein-Maas-Mosel waren fast tausend Jahre zuvor die Siebenbürger Sachsen als Mosel- und Rheinfranken gekommen. Dahin musste ich wieder und blieb doch ein k. u. k. Mann. Aus Kronstadt nach Köln. K. u. k. auf ein Neues!“ – so das Fazit und Ende dieses Buches, bzw. dieses Lebensabschnittes von Ingmar Brantsch. Wir sind gespannt auf die Fortsetzung.